Seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine diskutiert der Westen über die Legitimität von Waffenlieferungen an die Ukraine. Die Kernfrage ist: Darf eine auf Nachhaltigkeit und Impact orientierte Gemeinschaft Waffenlieferungen im Sinne von Ethik und Verantwortung gutheißen?
Seit mehr als sieben Monaten herrscht nun bereits Krieg in der Ukraine. Derzeit gibt es kaum Anlass zur Hoffnung, dass der Krieg schnell enden könnte. Spätestens mit der Annexion der vier ukrainischen Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin bleiben die Fronten stark verhärtet. Im Westen herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Ukraine in die Lage versetzt werden muss, diesen Krieg zu gewinnen oder zumindest Russland so unter Druck zu setzen, dass es sich zurückzieht und es damit zu (einem zumindest strategischen) Frieden kommt. Dafür braucht die Ukraine westliche Waffentechnologie.
Einige Beispiele: Verteidigungsministerin Christine Lambrecht hat Anfang Oktober für das kommende Jahr die Lieferung von 16 Radpanzerhaubitzen aus slowakischer Produktion an die Ukraine angekündigt. Die Ukraine hat nach Darstellung von Präsident Wolodymyr Selenskyj von den USA fortschrittliche Flugabwehrsysteme (National Advanced Surface-to-Air Missile System, NASAMS) erhalten. Die Regierung in Washington genehmigte deren Lieferung im vergangenen Monat.
Ist es moralisch verwerflich, Machtpolitik und Rüstungsindustrie aufgeschlossen gegenüberzustehen?
Bei der Bundesregierung heißt es: Deutschland unterstützt die Ukraine mit Ausrüstungs- und Waffenlieferungen – aus Beständen der Bundeswehr und durch Lieferungen der Industrie, die aus Mitteln der Ertüchtigungshilfe der Bundesregierung finanziert werden. Im Rahmen des Haushaltsverfahrens 2022 wurden die Mittel für die Ertüchtigungsinitiative auf insgesamt zwei Milliarden Euro für das Jahr 2022 erhöht. Die zusätzlichen Mittel sollen vornehmlich der Unterstützung der Ukraine zugutekommen. Zugleich werden sie zur Finanzierung der gestiegenen deutschen Pflichtbeiträge an die Europäische Friedensfazilität (EPF) eingesetzt, aus deren Mitteln wiederum Kosten der EU-Mitgliedstaaten für Unterstützungsleistungen an die Ukraine erstattet werden können.
Daher lautet eine wichtige Frage: Ist es in einer Welt, in der Sicherheit und Freiheit durch militärische Aggressoren bedroht sind, moralisch verwerflich, Machtpolitik und Rüstungsindustrie aufgeschlossen gegenüberzustehen? Die Antwort lautet: Nein, ist es nicht! Waffen gehören zum Schutz von Freiheit dazu. Der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Udo Di Fabio, der heute öffentliches Recht an der Universität Bonn lehrt, hatte sich in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) unter der Überschrift „Die Verteidigung eines freien Europas“ mit der Frage auseinandergesetzt, wie sich westliche Demokratien angesichts offener militärischer Aggression behaupten können.
Frieden schaffen ohne Waffen funktioniert heute nicht mehr
Seine Kernaussage: Wenn diese Behauptung gelingen soll, „müssen sie das Konzept der Nachhaltigkeit von der ökologischen Thematik, in der es eminent wichtig bleibt, auf machtpolitische Zusammenhänge ausdehnen“. Pazifismus und Abrüstung würden nur einer idealen Welt funktionieren, in der die USA als ‚gute[r] transatlantische[r] Hegemonie‘ schützen hinter in Europa stehe. In dieser Welt könne es auch „nicht nur für einige junge Anwältinnen und Anwälte als moralisch verwerflich [gelten], ein ‚Rüstungsunternehmen‘ wie Airbus zu beraten“. Unter anderem schreibt Udo Di Fabio über das angekündigte 100-Milliarden-Euro-Programm zur Modernisierung und Aufrüstung der Bundeswehr, um die Verteidigungs- und Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland auf ein angemessenes Niveau zu heben und die Nato-Verpflichtungen einzuhalten.
Das ist harter Tobak für eine von Frieden und Wohlstand verwöhnte westliche Welt. Frieden schaffen ohne Waffen, kontinuierliche Abrüstung, Friedensmärsche, betuliche Forderungen für ein versöhnliches Ende des Konflikts: Das alles ist angesichts von Zehntausenden gefallenen Soldaten, unzähligen zivilen Opfern, den Vorwürfen von Kriegsverbrechen, Drohungen zum Atomwaffeneinsatz, Teilmobilmachung und gigantischen ökonomischen Verwerfungen zumindest derzeit kaum tragfähig. Die Welt hat sich fundamental gewandelt, und dieses neue Zeitalter erfordert neue Verhaltensweisen.
Nicht einmal die SDG fordern eine Welt ohne Waffen
Dazu gehört eben auch, Waffenlieferungen nicht unter dem Deckmantel der Menschenrechte zu verbieten. Zwar wollen die Sustainable Development Goals (Ziel 16) starke und transparente Institutionen und damit Frieden, Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit ist gutes Regieren fördern. Die im SDG 16 formulierten Ziele „Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen“ sind laut der Bundesregierung Maximen der deutschen internationalen Politik. Zu den Konstanten gehören die Verankerung Deutschlands in der Europäischen Union, der euroatlantischen Partnerschaft und in den Vereinten Nationen, das weltweite Engagement Deutschlands für Frieden und Sicherheit, die Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten sowie der Einsatz für eine gerechte und nachhaltige Globalisierung.
Aber nicht einmal die SDG fordern im Sinne der Friedensförderung eine Welt ohne Waffen. Eine solche romantisierende Vorstellung und selbstgefällige Gesinnungsethik sind in Zeiten militärischer Bedrohung der freien Weltordnung nicht mehr haltbar. Auch machtpolitisch – und das heißt eben auch militärisch – muss diese Werteordnung erhalten werden. Friedenspolitik heißt nicht, sich durch Demilitarisierung und den konsequenten Verzicht auf Waffen in eine schwächere Position zu bringen und waffenbewehrten Aggressoren die Initiative zu überlassen. Friedenspolitik heißt, sich in einer neuen Welt zu positionieren und Friedenspositionen standhaft zu verteidigen, auch wenn dies mit dem Einsatz von Waffen zusammenhängt.
Wie können Frieden, Freiheit und Wohlstand gesichert werden?
Das bedeutet auch für eine Gemeinschaft, die auf Nachhaltigkeit und Impact orientiert ist, dass es nichts mit Ethik und Verantwortung zu tun hat, auf ein Kriegsende ohne Waffen zu beharren. Dieses wird nicht gelingen, und auch in Zukunft wird diese Welt ohne Waffen nicht möglich sein. Daher ist es kein Zeichen eines hohen moralischen Anspruches, sich gegen Waffen zu positionieren. Es ist vielmehr ein Zeichen dafür, die neue Welt und ihre tatsächlichen Herausforderungen nicht anzuerkennen.
Denn was passiert, wenn die freie, die gute Weltordnung, in der Gedanken über soziale und ökologische Nachhaltigkeit Raum haben, weil Frieden, Freiheit und Wohlstand gesichert scheinen, bedroht ist, wie es derzeit der Fall ist? Dann stellt sich zwangsläufig die Frage, welches Bewertungskriterium die höhere Relevanz für das Gemeinwohl besitzt, das Impact Investing bekanntlich und gemeinhin fördern will? Ist die Förderung einer nachhaltigen Machtpolitik und damit auch die Förderung militärischer Durchsetzungsfähigkeit im Angesicht eines militärischen Aggressors nicht höher anzusiedeln als eine moralische Haltung, die zwar theoretisch für Impact steht, aber am Ende des Tages eben die gewohnte Weltordnung und ökonomische, politische und soziale Strukturen gefährdet?
Orientierung an Immanuel Kant
Manchmal muss es das kleinere Übel sein, und die eigene, vermeintlich gute Haltung, gehört in den Hintergrund. Der große Philosoph Immanuel Kant hat betont: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Das heißt, der Grundsatz, an dem ich mein Handeln ausrichte, ist dann gut, wenn er ein allgemeines Gesetz sein könnte. Kant glaubt, dass der Mensch von Natur aus dieses moralische Gesetz erkennen kann. Ob er sein Handeln nur an diesem allgemein gültigen und aus der Vernunft begründeten Gesetz orientiert, entscheidet darüber, ob sein Handeln ethisch gut ist. Und dass es nicht allgemeines Gesetz sein kann und darf, aufgrund eigener Passivität gefährlichen Regimen das Feld zu überlassen, versteht sich wohl von selbst.