Impact Investing-Magazin kontrovers #4: Brauchen wir eigentlich noch ESG?

Das nachhaltige Investieren wurde und wird immer noch häufig mit den ESG-Kriterien für bestimmte positive Verhaltensweisen in den Bereichen Environment, Social und Governance identifiziert. ESG-konforme Unternehmen schaden nicht der Umwelt, setzen keine Kinderarbeit ein, zahlen niemals Bestechungsgelder und waschen kein Geld. Das reicht aber für echte Nachhaltigkeit nicht aus, denn so haben gut geführte Unternehmen schon immer gearbeitet. 

Klimawandel, Kinderarbeit, Diskriminierung, natürlicher Ressourcenmangel, Verletzung von Menschenrechten und, und, und: Es bestehen zahlreiche Probleme in der Welt, die Anlass zur Sorge bereiten und die viele Menschen bewegen. Daher suchen sie nach Möglichkeiten, ihr Geld mit gutem Gewissen anzulegen und damit Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft zum Guten zu verändern. Nachhaltige Geldanlage ist die allgemeine Bezeichnung für ethisch, sozial und ökologisch verantwortliches Investieren. Entsprechende Investments ergänzen die klassischen Kriterien der Rentabilität, Liquidität und Sicherheit um solche Kriterien. Diese wesentlichen Punkte werden unter der Abkürzung „ESG“ zusammengefasst. Das steht für „Environmental“, „Social“, „Governance“, also „Umwelt“, „Soziales“ und „Gute Unternehmensführung“. 

Und so verwundert es nicht, dass ESG-Investing in den vergangenen Jahren einen enormen Zulauf erfahren hat.  Im vergangenen Jahr lag die Gesamtsumme verantwortlicher Investments bei 2,2 Billionen Euro, 2020 betrug das Volumen noch 1,9 Billionen Euro. Das geht aus dem aktuellen Marktbericht 2022 vom Verband Forum Nachhaltige Geldanlage (fng) hervor, für den 73 Finanzdienstleister befragt worden sind.

„ESG-negative screening“ bezweckt bloße Reduzierung von negativen Auswirkungen eines Investments

Aber reicht die ESG-Orientierung wirklich aus, um langfristig echte Nachhaltigkeit zu erreichen? Expertinnen und Experten sind sich da nicht so sicher. Das liegt vor allem daran, dass beim ESG-Investing zunächst aufbauend auf Negativkriterien nur bestimmte Anlagen ausgeschlossen werden, will heißen, „dass in einem Negativkatalog ausdrücklich festgelegt wird, in welche Bereiche nicht investiert werden darf (‚Do no significant harm‘, zum Beispiel Rüstung, Kinder- und Zwangsarbeit, Massentierhaltung, fossile Energien etc.)“, schreibt Dr. Johannes Knorz in seinem Aufsatz „Impact Investing im Single Family Office – ein Überblick“.

Er kritisiert: Das „ESG-negative screening“ bezwecke „die bloße Reduzierung von negativen Auswirkungen eines Investments auf Mensch und Natur. Wir nennen sie daher (negativ ausgerichtete) bloße Vermeidungsstrategien. Diese sind zwar ein notwendiger erster Schritt bei der Auswahl eines Investments, greifen im Ergebnis zumindest aus unserer Sicht jedoch zu kurz, um die dringend notwendige Transformation unserer Wirtschafts- und Finanzordnung aktiv nach vorne zu bringen.“

ESG-konforme Verhaltensweise bei guten Unternehmen schon immer angesagt

Auch Nick Parsons, Head of Research & ESG bei der ThomasLloyd Group, hat eine differenzierte Haltung zum ESG-Investing. Für uns geht es bei ESG um Verhaltensweisen, und die am besten geführten Unternehmen der Welt haben schon gute Verhaltensweisen an den Tag gelegt, lange bevor der Begriff ESG überhaupt erfunden wurde. Gut geführte Unternehmen schaden nicht der Umwelt, setzen keine Kinderarbeit ein, zahlen menschenwürdige Löhne, behandeln ihre Mitarbeiter mit Würde und Respekt, zahlen niemals Bestechungsgelder, waschen kein Geld, vermeiden jegliche Diskriminierung und befolgen alle Gesetze, wo immer das Unternehmen tätig ist. „All dies ist grundlegender Geschäftssinn. Es ist nicht bahnbrechend und sicherlich auch nicht neu. So haben gut geführte Unternehmen schon immer gearbeitet“, meint Nick Parsons.

Ein weiteres Problem: „Nach mehr als drei Jahren positiver Nettozuflüsse in Fonds mit ESG-Ausrichtung scheint sich das Blatt zu wenden. Dies könnte natürlich nur darauf zurückzuführen sein, dass die Anleger ihre Verluste begrenzen. ESG-Fonds sind in der Regel im Technologiesektor übergewichtet und haben nur ein geringes oder gar kein Engagement in Öl und Gas. Dies hat sich in der ersten Hälfte dieses Jahres als der denkbar schlechteste Aktienportfoliomix erwiesen. Kein Wunder, dass sich einige ESG-Fonds jetzt in die Nesseln setzen und versuchen, größere Engagements in den Sektoren mit der besten Performance mit dem fadenscheinigen Argument des Engagements oder der Energiewende zu rechtfertigen“, betont Nick Parsons.

Beim nachhaltigen Investieren kommt es immer auf die Ergebnisse an

Für ihn gilt, dass ESG und gute Verhaltensweisen wichtig seien und dass gute Verhaltensweisen gegenüber schlechten belohnt werden sollten. „Letztendlich kommt es aber auf die Ergebnisse an – auf das Ausmaß, in dem Unternehmen Waren und Dienstleistungen geliefert haben, die unser Leben und die Welt, in der wir leben, positiv verändern. Das ist es, was wir als Wirkung definieren und wonach wir letztlich beurteilt werden sollten.“ Anlegerinnen und Anleger, die mit ihren Investitionen wirklich etwas bewirken wollen, sollten Parsons Meinung nach in reale Werte investieren. Auf diese Weise bringen die Anlegerinnen und Anleger frisches Geld in die Wirtschaft, schaffen neue Arbeitsplätze, entwickeln neue Vermögenswerte und bewirken einen positiven Unterschied für die Menschen und Gemeinschaften, in die ihr Geld investiert wird. 

Impact-Investition muss fundamentale ökologische oder soziale Herausforderung lösen

Diese Ansicht führt auf geradem Weg zum Impact Investing. Dr. Johannes Knorz beschreibt diese Anlagephilosophie so: Impact Investing nutzt ganz bewusst die bereits bestehenden marktwirtschaftlichen Mechanismen, um „Gutes“ zu bewirken. Durch diese Verbindung von finanzieller und ökologischer oder sozialer Rendite ist es somit erstmals möglich, wirklich nachhaltige ökologische und soziale Investitionen aus ihrem Nischendasein herauszuführen und im Mainstream unserer auf Gewinnerzielung gerichteten Marktwirtschaft zu etablieren. Die bisherige künstliche Trennung eines Investments von seinen Auswirkungen wird damit überwunden. Eine Impact-Investition müsse in eine Unternehmung (Projekt, Fonds etc.) erfolgen, die sowohl als Einheit selbst als auch in ihrem Wirken (Produkte, Dienstleistungen usw.) darauf ausgerichtet sei, eine fundamentale ökologische oder soziale Herausforderung zu lösen. Diese Ausrichtung wiederum müsse ein integraler Bestandteil des Geschäftsmodells selbst sein, also eine Art „Handabdruck“ des Unternehmens.

Reine ESG-Orientierung sorgt nicht für dauerhafte positive Wirkung 

Kurzum: Vor allem die ESG-Orientierung, die auf reinen Ausschlusskriterien im Sinne von Negativkriterien, taugt kaum etwas, um eine dauerhafte positive Wirkung für Wirtschaft, Umwelt und Gesellschaft herzustellen. Ein Solarzellenhersteller wird definitiv Environment-konform sein, also als ESG-Investment gelten. Aber dass dieser Solarzellenhersteller vielleicht besonders viel Wasser verbraucht und überdurchschnittlich viele Arbeitsunfälle hat, spielt dann in der Bewertung wiederum keine Rolle. Was hat das mit echter Nachhaltigkeit zu tun? Wohl nur sehr wenig, denn es kann nicht ausreichen, eine Sache gut zu machen, wenn dafür andere Sachen – vorsichtig formuliert – suboptimal strukturiert sind oder anders gesagt: wenn das Unternehmen in vielen Belangen alles andere als nachhaltig sind.

Das erinnert an den griechischen Philosophen Aristoteles, der in seiner berühmten Nikomachischen Ethikschreibt: „[W]enn wir aber als Funktion des Menschen eine bestimmte Lebensweise ansetzen, und zwar eine Tätigkeit der Seele und Handlungen mit Vernunft, als Funktion des guten Menschen, diese gut und angemessen zu tun, und wenn jede Handlung nach der (dem Menschen) eigentümlichen Tugend vollendet wird, dann ist das Gut für den Menschen eine Tätigkeit der Seele gemäß der Tüchtigkeit; wenn es aber mehrere Arten von Tüchtigkeit gibt, dann gemäß der besten und zielhaftesten; und das noch dazu in einem vollen Menschenleben. Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling und auch nicht ein Tag. So macht auch ein Tag oder eine kurze Zeit keinen selig und glücklich.“ (NE I 6, 1098a)

Es reicht nicht, ein bisschen nachhaltig zu sein

Es genügt also Aristoteles zufolge nicht, tugendhaft und gut sein zu wollen. Die Handlungen müssen diesem Vorsatz entsprechen, um wirklich gut zu sein. Das Gutsein wird zum Maßstab des Handelns, und glücklich ist damit der, „der gemäß der vollkommenen Tugend tätig und mit äußeren Gütern hinlänglich versehen ist, nicht eine beliebige Zeit hindurch, sondern durch sein ganzes Leben“ (Aristoteles (2019): Nikomachische Ethik. Übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger. Durchgesehene Ausgabe. Reclam: Stuttgart, S. 397). Die einmalige gute Handlung ist nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Wer echte Glückseligkeit erreichen will, muss auf Basis seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sein Leben auf das Gute hin ausrichten.

Das lässt sich auf die Nachhaltigkeit übertragen. Es reicht nicht, sich für „die bloße Reduzierung von negativen Auswirkungen eines Investments auf Mensch und Natur“ (Knorz 2021) zu feiern. Nachhaltigkeit bedeutet mehr als das! Unternehmen sollten sich komplett darauf einstellen: Es reicht einfach nicht, ein bisschen nachhaltig zu sein! Und wer sich im Rahmen seiner Geldanlage wirklich und wahrhaftig nachhaltig engagieren will, sollte darauf achten, sich nicht allein auf ESG-Vermeidungsstrategien zu verlassen, sondern Nachhaltigkeit umfassend zu verstehen.