„Glaubwürdige Ethik lebt durch glaubwürdig tugendhafte Menschen“

Prof. Dr. Dr. Elmar Nass ist römisch-katholischer Priester, Theologe und Sozial– und Wirtschaftsethiker. Hauptlehr- und Forschungsgebiete von Elmar Nass ist die Sozialethik mit dem Schwerpunkt Wirtschaftsethik. Er ist Prorektor und Lehrstuhlinhaber Christliche Sozialwissenschaften und gesellschaftlicher Dialog an der KHKT (Kölner Hochschule für Katholische Theologie) und unter anderem Autor des kürzlich in USA erschienenen Buches „Christian Social Ethics“. Im Interview mit Chefredakteur Prof. Dr. Patrick Peters spricht Prof. Dr. Dr. Elmar Nass über die Berührungspunkte der Sozial- und Wirtschaftsethik und die besonderen Herausforderungen im Finanzsektor.

Wofür brauchen wir Sozialethik in der Wirtschaft? 

Elmar Nass: Tatsächlich höre ich vor allem in Diskussionen mit Ökonomen und Wirtschaftsvertretern, dass die Wirtschaft sich ethisch selbst genügt. Schließlich schafft erfolgreiches Wirtschaften Arbeitsplätze. Das ist ja schon ein hoher Wert. Zudem dient ja der Markt mit seinem Effizienzprinzip dazu, dass die Verschwendung von knappen Ressourcen vermieden wird. Das schont die Umwelt und kommt ceteris paribus den besonders Bedürftigen zugute. Und noch etwas: Die Konsumentenrente wird wie von unsichtbarer Hand erhöht. Denn der funktionierende Wettbewerb sorgt dafür, dass am Markt die Preise gesenkt und Qualität erhöht werden. Und das kommt den Konsumenten zugute. Allenfalls braucht es dann solche Regulierungen, die das Funktionieren des Marktes schützen: neben den Strafen für Betrug, Wucher, Desinformation etc. etwa reallokative Wettbewerbsregeln, Markttransparenz, Kartellgesetze, die Vermeidung von Marktmacht, den Ausgleich externer Effekte etc. Das alles ist richtig. Es sind notwendige Bedingungen für eine Ethik der Wirtschaft. Streng genommen wäre so der Markt seine eigene Ethik, weil es am Ende allein darum geht, den funktionierenden Markt zu erhalten und dessen positive Wirkungen zu feiern. Aber das ist noch keine hinreichende sozialethische Perspektive. Sozialethik ist keine endogenisierte Wirtschaftswissenschaft. Sie hat eine eigene Logik, die jenseits der ökonomischen Logik ansetzt. Sie beginnt immer mit der Frage nach dem Menschen und seiner Würde. Daraus leitet sie ihr Verständnis von Gerechtigkeit ab. 

Können Sie den Gerechtigkeitsbegriff weiter ausführen?

Elmar Nass: Soziale Gerechtigkeit ist das der Menschenwürde entsprechende Verteilungsrecht. Je nach Menschenbild gibt es also verschiedene Auslegungen von Würde und sozialer Gerechtigkeit. Deshalb gibt es auch viele verschiedene Sozialethiken mit je eigenen Vorstellungen von Menschendienlichkeit. Und dieser jeweilige Spiegel wird dann den Marktallokationen vorgehalten mit der Frage: Entspricht diese Allokation der Menschenwürde? Oder brauchen wir darüber hinaus Redistributionen, also zusätzliche Eingriffe in die Marktergebnisse, um etwa die Würde der schwächsten Menschen sicherzustellen. Etwa John Rawls fordert solche Redistributionen ein, die so gewählt sein sollen, dass davon am Ende die Lage der Schwächsten in der Gesellschaft optimiert wird. Solche Gerechtigkeit kann der Markt alleine nicht aus sich hervorbringen. Hier braucht es also eigene weltanschaulich (und nicht allein ökonomisch) begründete Kriterien, um Verteilungsgerechtigkeit herzustellen. Und das Ringen darum geschieht im Bereich der Sozialethik, wo christliche, utilitaristische, kantische, darwinistische, sozialistische u.a. Positionen miteinander konkurrieren. Die Sozialethik fügt also der ökonomischen Logik substantiell Gehaltvolles hinzu, was der Markt nicht aus sich selbst hervorbringen kann.  

Wie berühren sich Sozial- und Wirtschaftsethik? 

Elmar Nass: Die Frage nach der Bestimmung des gerechten Steuersatzes, die ich gerade angesprochen habe, ist schon ein Anwendungsbeispiel dafür, wo und wie sozialethische Werte (Vorstellungen von Menschenwürde und Gerechtigkeit) für Wirtschaftsfragen relevant werden. Schauen wir auch einmal auf Adam Smith, den großen schottischen Wirtschaftsphilosophen. Jeder Ökonom dieser Welt kennt das berühmte Zitat von Bäcker, Metzger usw., die ja nicht aus Wohltätigkeit, sondern aus Eigennutz ihre Waren anbieten. Aber wer kennt eigentlich die Anthropologie von Adam Smith, die seiner Philosophie zugrunde liegt? Adam Smith setzt sozialethisch an, denn er stellt in seiner Theorie der ethischen Gefühle ein Menschenbild vor und macht es zum Maßstab einer guten Gesellschaft. Danach besitzt der Mensch neben seiner egoistischen auch eine altruistische Natur. Und beide Naturen ringen fortlaufend unter Führung des inneren Gewissens miteinander. Eine gute Entscheidung treffen Menschen nach Smith aber erst dann, wenn sie ihre Entscheidungen auch noch an einer neutralen objektiven Ethikinstanz abgleichen, dem so genannten unparteiischen Beobachter. Diese Vorstellung vom guten Leben ist für Smith letztlich das Maß für eine gerechte Gesellschaft. Und erst im nächsten Schritt fragt er, welche Folgen dieses Ziel nun für die Gestaltung der Wirtschaftsordnung hat. Er stellt sozialethisch fest, dass eine Umerziehung des Menschen weder Erfolg verspricht noch der Idee menschlicher Freiheit entspricht. Deshalb lehnt er kategorisch solche Utopien ab, die dem Menschen den Egoismus austreiben wollen. Vielmehr brauche es eine Wirtschaft, die trotz des vorhandenen Egoismus am Ende gute Ergebnisse für die Wirtschaft und das Zusammenleben der Menschen hervorbringt. Seine Antwort ist hier eine möglichst freie Wirtschaft, die zugleich aber das Ideal des gewissenhaften Menschen und objektiver ethischer Werte einfordert, die der Markt nicht selbst aus sich hervorbringt. Diese Wirtschaftsphilosophie zeigt wunderbar das Ineinander von Wirtschafts- als Sozialethik.

Bestehen im Finanzsektor besondere Herausforderungen? 

Elmar Nass: Natürlich fallen mir dazu die bekannten und in dieser Zeitschrift schon kompetent diskutierten Fragen nach den Kriterien von ethisch erwünschten Geldanlagen ein. Ich sehe aber noch eine andere besondere Herausforderung. Die betrifft die Unternehmensethik: Der Systemtheorie von Niklas Luhmann zufolge geht es – etwas vereinfacht gesagt – im Finanzsektor um die Logik „Gewinn oder Verlust“ und in der Ethik um die Logik „gut oder böse“. Beides scheint sich zunächst unversöhnlich gegenüber zu stehen. Es sei denn, dass zufällig das Gute auch Gewinn abwirft. Dann haben wir eine Win-Win-Situation von Finanzlogik und Ethik. Aber diese Kongruenz ist nicht die Regel. Spannend wird es doch erst, wo beides auseinander geht, also wo durch Finanzgeschäfte Gewinne erzielt werden, die moralisch verwerflich sind. Oder umgekehrt, wo besonders ethisch erwünschte Resultate des Handelns zu finanziellen Verlusten führen.

Können Sie dazu ein Beispiel geben?

Elmar Nass: Das mache ich gerne mit Blick auf die Sozialwirtschaft. Der Vorstandsvorsitzende eines großen Unternehmens wurde in einer Kaminrunde mit leitenden Mitarbeitern gefragt: „Was ist bei uns im Zweifel wichtiger: Wirtschaftlichkeit oder Menschlichkeit?“ Der CEO antwortete: „Das eine geht nicht ohne das andere. Beide sind gleichwichtig.“ Eine solche Balance mag man in der Sozialwirtschaft einfordern und vielleicht sogar auch leben. Aber im Finanzsektor? Hier ist der Druck auf das Prinzip der Menschendienlichkeit ungleich höher. Es scheint doch nur dann eine Chance zu haben, wenn sich dadurch das Win-Win einstellt, nach dem Motto: „Wertschöpfung durch Wertschätzung.“ Dann ist das humane Prinzip und damit der Mitarbeiter in der Unternehmenskultur ein austauschbares Instrument der Gewinnmaximierung. Dieser hohe Druck auf das ethische Gegenüber des Gewinnprinzips ist aus unternehmensethischer Sicht eine ganz besondere Herausforderung für den Finanzsektor, der damit unter dem Verdacht steht, besonders radikal die Menschen dem Gewinn zu opfern. Ich bin gelernter Bankkaufmann. Als ich mich während der Ausbildung entschloss, anschließend Theologie zu studieren, wurde mir entgegengehalten: „Geh nicht, denn es braucht auch in der Bank Menschen mit Tugend und Werten.“ Ich bin damals trotzdem gegangen. Und achte doch zugleich meinen gelernten Beruf. Vor allem diejenigen, die trotz des zunehmenden Drucks solche moralischen Vorbilder im Finanzsektor sind und sie fördern.

Wie können Investoren Ethik in Unternehmen erkennen und messen? 

Elmar Nass: Investoren sollten selbstverständlich stets kritisch prüfen, welche Philosophie Unternehmen verfolgen, also auch welche Mission und welche Vision sie verfolgen. Stimmen die mit den eigenen Werten und Visionen überein? Das ist natürlich nur eine erste Annäherung. Es gibt nicht die eine einzige Ethik, sondern je nach Menschenbild finden wir zahllose Vorstellungen von Ethik. Bei komplexen Fragen dieser Art taste ich mich hier mit der Antwort gerne heran, indem ich sage, wie es nicht geht. Ich sehe eine gewinnende Ethik nicht dort, wo moralische Parolen an den Bürowänden prangen. Das erinnert mich eher an Indoktrination. Man sieht es nicht durch wohlfeile Formulierungen in Hochglanzbroschüren. Je mehr ethischer Hochglanz, umso verdächtiger wird es, dass etwas zu verbergen ist. Man sieht es auch nicht durch gut vermarktetes CSR. Hier braucht es einen tieferen Blick. Ein Beispiel: In einem Vortrag vor Studenten lobte der CEO eines Pharmaunternehmens die Finanzierung einer Flussbegradigung, mit der auch die Umwelt geschont wird. In der anschließenden Diskussion gab er zu, dass sein Unternehmen keine Forschung in die Entwicklung von Medikamenten gegen Ebola investiere, weil sich das einfach nicht lohne. Die schöne Flussbegradigung wiegt das moralische Defizit des anderen Arguments nicht auf. Also braucht es einen ganzheitlichen Blick auf Unternehmen und ihre Politik. Blendwerk ist als solches sauber zu entlarven. Und deshalb braucht es einen Einblick in die gelebte Unternehmensphilosophie. Manche Unternehmen führen entsprechende Mitarbeiterbefragungen durch, in denen etwa die Unternehmenskultur gespiegelt wird. Ethisch gute Unternehmen stellen sich in der Öffentlichkeit kritischen Fragen zu ihrer Unternehmensphilosophie und schaffen so Transparenz. Es lohnt sich hierbei auch ein genauer Blick auf die Führungspersönlichkeiten. Denn sie prägen in hohem Maße Prioritäten, Politik und Kultur. Aristoteles fordert, dass Menschen mit großer Verantwortung besonders tugendhaft sein sollten. Also Narzissten und Machtgetriebene, die statistisch gesehen einen hohen Prozentsatz der Chefsessel in Führungsetagen der Unternehmen bevölkern, sind ein denkbar schlechtes Siegel der Ethik. Glaubwürdige Ethik lebt durch glaubwürdig tugendhafte Menschen. Die entdecke ich vor allem in der persönlichen Begegnung. 

Welche Rolle nimmt eine spezifisch christliche Sozialethik in der ökonomischen Diskussion? 

Elmar Nass: Der Einfluss ausdrücklich christlicher Ethik für die ökonomische Diskussion ist zunehmend geschwunden. Das hat nach meiner Beobachtung verschiedene Gründe. 1. Wer hier als christlicher Vertreter kompetent mitdiskutieren will, muss auch etwas vom Gegenstandsbereich Wirtschaft verstehen. Mir scheint es, dass es da in Deutschland nicht mehr viele Theologen gibt. 2. Zahlreiche christliche Sozialethiker verzichten in ihren Stellungnahmen auch zu wirtschaftsethischen Fragen auf eine ausdrücklich christliche Argumentation. Wenn diese Begründungsbasis aber verschwiegen wird, um Anschluss an säkulare Diskussionen zu finden, dann geht das Bewusstsein für das Christliche verloren. Noch mehr: Christliche Wirtschaftsethik wird letztlich unglaubwürdig oder überflüssig, wenn sie ihre eigenen Begründungen verschweigt. 3. Selbstverständlich sehen wir eine zunehmende Entchristlichung der Gesellschaft, sodass eine theologische Argumentation schnell rhetorisch ausgebremst werden kann, etwa mit Verweisen auf Missstände in der Kirche etc. Auch das verdrängt hörbar christliche Positionen im Diskurs. 

Geschieht diese Verdrängung denn zurecht?

Elmar Nass: Nein, die christliche Wirtschaftsethik gründet im christlichen Menschenbild. Und dieses ist aus meiner Überzeugung eine hervorragende Grundlage zur Begründung unantastbarer Menschenwürde. Die wiederum ist der Kompass für eine gerechte Wirtschaftsordnung. Das hat etwa Thomas von Aquin bewiesen, indem er aus der Anthropologie die Privateigentumsordnung überzeugend ableiten konnte. Oder die Gründerväter der Sozialen Marktwirtschaft, die aus einer tiefen christlichen Gesinnung heraus die Ziele von Humanität und Markt miteinander verbunden haben. Geht diese ethische Wurzel verloren, muss gefragt werden, auf welchen Werten dann unsere Wirtschaft und Gesellschaft in Zukunft noch fußen soll. Christlich lassen sich unbedingte Rechte und Pflichten begründen ebenso wie eine irenische Idee des Miteinanders (Alfred Müller-Armack). Die Aufklärung im Sinne von Immanuel Kant ist dafür sicher ein guter Partner, doch auch dessen universale ethische Prinzipien sollen einer immer lauteren Meinungsmache entsprechend dekonstruiert werden. Fehlen uns solche universalen Prinzipien und Werte, dann wird unsere Wirtschaft und Gesellschaft anfällig für Modelle jenseits der Humanität, wie etwa für das chinesische Modell „sozialistischer Marktwirtschaft“. Das sollte nicht passieren. Christentum und Aufklärung gemeinsam sind Garanten für eine Resilienz humaner Wirtschaft, die diesen Namen verdient.